Mantren der Hoffenden
"Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung."
Heute löst diese Aussage von Kaiser Wilhelm II ein überraschtes Stirnrunzeln aus. Doch diese Meinung war im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Und auch das 20. Jahrhundert war voll mit Fehleinschätzungen zur technischen Entwicklung und zur flächendeckenden Verbreitung von Trends:
"Das Internet ist nur ein Hype!" (Bill Gates, Microsoft® Corporation, 1995)
"Ich denke, es gibt weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer." (Thomas John Watson, Vorsitzender von IBM, 1943)
"Der Fernseher wird sich auf dem Markt nicht durchsetzen. Die Menschen werden sehr bald müde sein, jeden Abend auf eine Sperrholzkiste zu starren." (Darryl F. Zanuck, Chef der Filmgesellschaft Twentieth Century Fox, 1946)
"Das Internet wird 1996 kollabieren." (Robert Metcalfe, Erfinder des Ethernet, 1990)
"Einkäufe per Computer werden niemals die Freuden des persönlichen Einkaufens ersetzen können." (John Naisbitt, amerikanischer Prognostiker)
Wenn ich diese Statements hier zitiere, dann deshalb, weil Sie mich sehr stark an Aussagen erinnern, denen ich auch heute noch im Rahmen von Diskussionen um die Vertriebsstrategie und die Umsetzung technischer Innovationen in Sparkassen und Banken begegne.
"...na, so schlimm wird's schon nicht werden!", "...unsere Kunden sind da ganz anders drauf!", "...es ist noch immer gut gegangen!"
Gerade bei den Banken und speziell in den Sparkassen werden diese Mantren der Hoffnung wie eine Monstranz in der Prozession vor uns hergetragen. Und das nicht nur bei Mitarbeitern, die das veränderte Kundenverhalten ja unmittelbar mitbekommen. Auch in der Geschäftsleitung (zunehmend weniger werdend) einiger Institute trifft man auf diese Haltung. Dabei hat der digitale Umbruch längst statt gefunden. Ja ich gehe sogar einen Schritt weiter und rede von einer digitalen Revolution.
Digitalisierung, Industrie 4.0, digitale Revolution – diese Begriffe stehen für den wohl größten technischen Umbruch in unserer Gesellschaft. In unserem Alltag zeigt er sich in Geräten wie dem Smartphone. Smartphones, Smartwatches,Tablets und weitere digitale Helfer haben es geschafft, viele Funktionen zu vereinen und unser Leben zu verändern. "Smart Home" verwaltet unser Haus oder unsere Wohnung. Unsere Autos werden zunehmend autonomer. Der Schritt vom Spurhalteassistenten und Abstandhalter zum vollständig autonomen Fahren ist nur noch klein und steht uns kurz bevor. Natürlich macht die neue Technik den Alltag nicht immer einfacher. Manchmal ist es schon etwas verzwickt, sich beim Onlinekauf durch Bestell- und Bezahlseiten zu klicken. Aber dennoch möchte kaum jemand von uns auf Amazon & Co verzichten.
Die Kunden bleiben auf dem Sofa sitzen
Schauen wir uns doch einmal die Veränderung des Kundenverhaltens an. Die Kunden, die wir gerne in unseren Beratungscentern als Kunden begrüßen wollen, verweigern sich. "Ich berate mich selbst!", sagen die und bleiben auf dem Wohnzimmersofa mit dem Tablet sitzen. Und die Kundenberater reiben sich verwundert die Augen, wenn ein Kunde doch tatsächlich ohne Terminvereinbarung durch das Kunden Service Center mit einem "blutenden Finger" den Weg an den Beraterschreibtisch von selbst findet. So etwas hat er in den letzten Monaten zunehmend seltener erlebt.
Und nicht nur die Berater müssen umdenken. Auch die Mitarbeiter im Servicebereich spüren die Entwicklungen. Immer weniger Mitarbeiter werden in diesem Bereich schon heute und vor allem in den nächsten Jahren benötigt. Der Personalabbau wird diesen Bereich in erster Linie treffen. Und ob wir in ca. 10 Jahren überhaupt noch SB-Bereiche mit Geldautomaten, Kontoauszugsdruckern, Überweisungsterminals und Geldwechslern benötigen, steht auch in den Sternen. Von den internen Stabsbereichen, die durch die zunehmende Digitalisierung und Verschlankung der Prozesse schrumpfen, wollen wir hier gar nicht reden. Kurzum: Die Bank oder Sparkasse, die wir seit nahezu 30 Jahren in dieser Form liebgewonnen und geschätzt haben, die uns einen sicheren Arbeitsplatz geboten hat, wird es in dieser Form künftig nicht mehr geben. Wer die heute schon stattfindenden Veränderung in die nähere Zukunft fortschreibt, wird wie ich von einer digitalen Revolution sprechen müssen.
Pfeifend durch den dunklen Wald
Überraschend ist für mich dabei allerdings schon, wie unsere Kollegen im Vertrieb auf diese offensichtlichen Entwicklungen reagieren. So hat im letzten Monat eine Sparkasse hausintern Stellen für das Digitale Beratungs Center (DBC) gesucht ... und ... nicht gefunden. In einem Haus mit einer nahezu vierstelligen Mitarbeiterzahl hat sich nicht !!! ein !!! Berater beworben. Und das bei einer durchaus attraktiven, mit dem stationären Vertrieb identischen Vergütung. Wenn ich dann mit Kundenberatern über die Entwicklung im Vertrieb rede, erhalte ich Statements wie "...meine Kunden sind da anders...", "...meine Kunden kommen lieber in die Geschäftsstelle, um sich beraten zu lassen..." oder "...wir haben so viele Kunden, die nicht online sind. Das wird sich doch in den nächsten 15 Jahren nicht ändern..."
Mich erinnert das eher an ein unschuldiges und leicht verängstigtes Kind im dunklen Wald, das seiner Angst mit lauten Pfeifen begegnet.
Dabei sollte ich, nein, müsste ich als Berater vorausschauend doch die Chancen sehen, die dieser neue Vertriebskanal mir bietet. Ja man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Im Bankvertrieb ist der digitale, mediale Berater das (einzige) Erfolgsmodell und vielleicht sogar eine Garantie für einen halbwegs sicheren Arbeitsplatz in unserer Branche. Wer sich heute für diesen Beratungsbereich qualifiziert, hat eine reelle Chance, auch in 15 Jahren noch Kunden beraten zu dürfen.
Der Hybrid-Berater als digitaler Berater 2.0
Ist es im Moment noch das Digitale Beratungs Center (DBC) als Filiale neben dem stationären Vertrieb, so wird sich auch das in den nächsten Jahren verändern. Im Moment ist digitale Beratung technisch anspruchsvoll. Der Umgang mit den Beratungsmedien in einer technischen Umgebung setzt eine "Multitaskingfähigkeit" als Basisqualifikation voraus. Webcam, Grafiktablet, Videoübertragungssoftware, Beratungssoftware, Headset mit Telefonswitch und nicht zuletzt bis zu 3 Bildschirme fordern meine Aufmerksamkeit ... und dann ist da noch der Kunde, den ich abholen muss. Eine fürwahr anspruchsvolle Beratungssituation.
Natürlich sind die Anforderungen an den digitalen Berater hoch und nicht jeder Berater mag oder kann sich diesem Lern- und Trainingsprozess stellen. Genau das ist der Grund, warum diese Kompetenzen heute noch in einem DBC gebündelt werden. Die Personalentwickler in den Sparkassen gehen davon aus, das im Moment nur jeder dritte oder vierte Berater dem sich aus der technischen Arbeitsumgebung ergebenden Anforderungsprofil genügt. In Zukunft werden diese digitalen und medialen Kompetenzen von jedem Mitarbeiter im Kundenkontakt als Basisqualifikation gefordert sein. Hierzu müssen die Aus- und Fortbildungsprogramme angepasst werden, damit wir nach einer Übergangszeit von rund 10 Jahren den Hybrid-Berater, der sowohl die klassische Beratungssituation "face to face" als auch auch den digitalen Prozess beherrscht, als Standard etabliert haben.